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Detlef Schmalenberg „„Sie war der Teufel, der mir das Leben zur Hölle gemacht hat“

Nominiert für den Deutschen Reporterpreis 2010.

Sie war der Teufel, der mir das Leben zur Hölle gemacht hat“

Erich Scheuch kam Anfang 1961 als Fünfjähriger ins Kinderheim Sülz, wo er bis Ende 1969 blieb. Dem "Kölner Stadt-Anzeiger" berichtet er von schlimmsten Misshandlungen durch seine Erzieherin, die inzwischen verstorben ist. Zeugen, die damals auch im Heim lebten, bestätigen das "Klima aus Angst und Terror"


Von Detlef Schmalenberg, Kölner Stadtanzeiger, 16.04.2010


Das Geschöpf steht mit hassverzerrtem Gesicht am Fußende meines Bettes. Es ist gekommen, um mich zu holen, hat Hörner, Klauen, einen Schwanz und ist umgeben von einem riesigen Feuermeer. Als ich näher hinschaue, erkenne ich, dass das Monster, das aussieht wie der leibhaftige Teufel, meine Erzieherin ist. Anstatt mich zu verbrennen, setzt sie mir kleine gefräßige Käfer auf den Oberschenkel. Die bohren sich durch die Haut und fressen sich bis zur Fußspitze vor. Das Monster lacht und ich schreie vor Schmerzen. Dann wache ich auf.

Alpträume wie dieser sind es, die mich bis heute verfolgen. Manchmal werde ich erst wach, wenn meine Frau mich rüttelt. Du hast wieder geschrien, sagt sie dann. Was genau ich gerufen habe, versteht sie meist nicht. Nur dass es auch immer wieder "Nein, Nein, Nein" gewesen ist.

Frau W. war meine Gruppenmutter im Kinderheim Sülz. Fast acht Jahre lang. Sie war der Teufel, der mir das Leben zur Hölle gemacht hat. Sie hat mich gehasst, fast zu Tode gequält. "Am besten sollte man ihn ersäufen, dann wird er dem Steuerzahler nicht mehr auf der Tasche liegen", hat sie über mich gesagt. Wie mir ist es vielen Kindern ergangen. Wenngleich die meisten vielleicht nicht so schlimm misshandelt wurden wie ich.

Weil meinen Eltern, die Alkoholiker waren und kriminell, die Elternschaft aberkannt wurde, kam ich als Fünfjähriger ins Heim. Ich wurde nicht nur geschlagen, sondern brutal verprügel, fast täglich. Die Hände hat W. dafür schon früh nicht mehr benutzt. Holzlatschen, Bügel, Handfeger, abgebrochene Stuhlbeine oder Stuhllehnen und Äste, die sie von Spaziergängen mitbrachte: Ihr war nur wichtig, dass es wehtat. Bevorzugt hat sie mich dafür in einen kleinen Abstellraum geschleift. Im Schnitt hat sie dort einmal im Monat so hingelangt, dass ich bewusstlos wurde. In sieben Jahren müsste das dann 84-mal der Fall gewesen sein. Dabei hat sie mir unter anderem ein Schienbein, ein Sattelgelenk und ein Schlüsselbein gebrochen. Von den zahlreichen Narben gar nicht erst zu sprechen. Wenn ich dann die Frechheit besaß, den Boden voll zu bluten, musste ich das Blut mit einem Handtuch wegwischen und dieses anschließend mit Seife, Ata und Wasser solange waschen, bis es wieder sauber war. Und manchmal musste ich die Kleidung trocken bügeln oder ich musste sie nass wieder anziehen.

Als Kind hatte ich das Gefühl, es ist richtig, dass sie mich schlägt. Sie hat mir eingebläut, dass ich schlecht bin und in die Hölle komme. "Du bist von Geburt an schon schlecht", hat sie immer wieder gesagt. "Du kommst in die Hölle, wirst bestraft für deine Sünden und verbrennen." Deshalb habe ich gedacht, ich bin eben so, ich habe es nicht besser verdient.

Heute noch bricht mir manchmal der linke Daumennagel in der Mitte ab. Eine Nachwirkung ihres Versuchs, mir das Schreiben mit der linken Hand abzugewöhnen. Weil ich es immer wieder heimlich versuchte, legte sie meine Hand in einen Türrahmen. Sie wollte die Finger zur Strafe einklemmen. Doch kurz bevor die Tür zuschlug, zog ich die Hand reflexartig zurück, wurde aber noch am Daumen erwischt. Wie häufig drosch W. auf mich ein, bis ich mich nicht mehr bewegte. Einige Tage später war mein Daumen tiefblau und der Nagel locker. Da hat sie eine Zange genommen und ihn abgezogen. Das Blut hat gespritzt und vor Schmerz und Überraschung habe ich anfangs noch nicht einmal weinen können.

Warum sie mich so extrem behandelt hat? Vermutlich, weil sie es sich erlauben konnte. Da war kein Angehöriger, dem gegenüber sie die Verletzungen und blauen Flecke hätte erklären müssen. Meine Mutter ist in acht Jahren nur viermal zu Besuch gekommen, mein Vater nie. Nur mein Opa war häufiger da. Doch als der sich über die Misshandlungen beim Jugendamt beschwerte, durfte er mich monatelang nicht mehr besuchen.

Ab dem ersten Schuljahr musste ich morgens vor Unterrichtsbeginn und abends vor dem Schlafengehen die Waschräume der Jungen und Mädchen sowie das Badezimmer der Erwachsenen putzen. Waschbecken und Toiletten scheuern und anschließend trocken polieren. Wenn ich morgens nicht fertig wurde, musste ich ohne Frühstück in die Schule. Da meine Lehrerin meinen knurrenden Magen hörte, gab sie mir regelmäßig von ihren Broten etwas ab. Als W. davon erfuhr, musste ich mittags so viel essen, bis ich alles erbrach. Das Erbrochene musste dann natürlich wieder runter. Wenn ich das nicht wollte, stopfte sie es mir mit einem Löffel in den Mund. Wenn ich diesen nicht sofort öffnete, hielt sie mir die Nase zu, so das ich reflexartig nach Luft japste. Damit ich nichts ausspuckte, drückte sie mit der anderen Hand mein Kinn nach oben. Das hat sie mit vielen Kindern so gemacht, beispielsweise, wenn sie eine heiße Suppe nicht sofort essen wollten.

Wenn die W. uns geschlagen, gedemütigt oder extrem kalt und heiß abgeduscht hat, hat sie immer gegrinst. Dieses Grinsen ist es, dass ich nie vergessen werde. "Du Waschlappen, stell´ dich nicht so an", hat sie dann meistens gesagt. Auch wenn ich im Bett den Kopf nicht zur Wand gedreht hatte, gab es Schläge. Und wenn ich im Schlaf mit dem Kopf hin und her gewackelt habe, weckte sie mich auf. Dann musste ich auf drei Hockern schlafen, die ich selber zusammenstellen musste. Manchmal legte W. mich auch in den Flur vor das Zimmer, in dem sie selber schlief.

Morgens weckte sie mich mit Tritten gegen den Kopf oder Oberkörper. Ab und zu musste ich zur Strafe auch in der Badewanne schlafen. Dann kam es vor, dass sie mitten in der Nacht den Wasserhahn aufdrehte und ich mit nassem Schlafanzug und Plümo schlafen musste.

Wenn ich dringend zur Toilette musste, ließ sie mich häufig lange warten. Das hat sie bei vielen Kindern so gemacht. Wenn wir uns vor Schmerzen krümmten, lachte sie und bezeichnete uns als Waschlappen. Nachdem wir dann ins Bett oder in die Hose gemacht haben, mussten wir stundenlang mit feuchter Hose oder Betttuch im Flur stehen. Manchmal zeigte sie sogar die Unterhosen rum mit der Behauptung, derjenige sei zu dumm, sich richtig abzuputzen. Überhaupt war sie der Meinung, dass man nur zur Toilette sollte, wenn sie es bestimmte. Gelegentlich sogar dann, wenn man gar nicht musste. In der Angst, sie schickt mich irgendwann auf die Toilette, und ich kann dann nicht, habe ich schon freiwillig stundenlang eingehalten. Ob ich heute eine Erklärung dafür habe, wieso sie das getan hat? Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Ich frage mich nur, ob es damals ein Lehrbuch für Erzieher gab, wie breche, erniedrige und demütige ich Kinder. Denn auch in anderen Gruppen des Heimes ist geprügelt und gequält worden, auch der Pastor hat brutal zugelangt. Der hatte extrem harte Hände. Wenn er zuschlug, war das so, als ob man von einer Bratpfanne getroffen wird. Wenn die Kinder dann meterweit flogen, war er auch noch stolz darauf. Geholfen hat uns damals niemand. Aber die Nachbarn müssen doch die Schreie gehört haben! Die müssen doch was gemerkt haben!

Einmal erinnere ich mich, wie wir im Winter mit kurzer Hose im Beetvovenpark spazieren gegangen sind. Ich hatte blutige Risswunden an den Beinen, weil W. mich am Tag zuvor mit einem Ast geschlagen hatte. Ich sehe noch die Gesichter von den Spaziergängern, die an uns vorbeigingen. Wenn ich könnte, würde ich diesen Leuten noch heute ins Gesicht schreien wollen.

Warum habt ihr nichts getan oder wenigstens etwas gesagt? Weggeschaut habt ihr, verschämt eure Gesichter weggedreht. Könnt ihr euch noch daran erinnern? Oder war es euch egal und ihr habt es einfach vergessen, weil es unwichtig für euch war? Denn es waren ja nicht eure Kinder. Mein Zufluchtort in dieser Zeit war die Schule, die im Erdgeschoss des Heimes lag. Dort habe ich mich sicher gefühlt. Die Lehrer haben mir, wenn überhaupt, nur ab und zu mal eine Ohrfeige gegeben. Das war mein Glück, denn 24 Stunden am Tag hätte ich den Terror wohl nicht ausgehalten, wäre endgültig daran zerbrochen. In den Unterrichtspausen jedoch durfte ich nicht auf den Schulhof. Musste rauf zu W., die mich dann meist in die Ecke stellte oder prügelte, bis es zur nächsten Stunde klingelte.

Als ich zwölf Jahre alt war, bin ich in ein anderes Heim verlegt worden. Dort war es auch streng, aber bei weitem nicht so schlimm wie am Sülzgürtel. Mit 16 habe ich dann den Realschulabschluss geschafft. Als ich mich mit 18 Jahren selber einmal beim Jugendamt wegen der Zeit in Sülz beschwert habe, wurde mir der Mund verboten. Die Beamtin sagte, ich würde doch nur lügen, und drohte, dass man mich in ein Irrenhaus stecken würde, wenn ich keine Ruhe geben würde.

Das habe ich für bare Münze genommen. Aus Angst, in der Psychiatrie womöglich wieder einem Sadisten ausgeliefert zu sein, habe ich geschwiegen. Meine Wut wandelte sich in Resignation. Denn zu dieser Zeit galten Heimkinder doch als dumm, kriminell und asozial. Dir glaubt sowieso keiner, dachte ich. Auch gegenüber meiner Frau, die ich 1986 im Alter von 30 Jahren geheiratet habe, habe ich lange Zeit nur Andeutungen über meine Kindheit gemacht.

Ob ich W. verzeihen kann? Nein, unmöglich. Wenn sie heute noch leben würde, würde ich fluchtartig den Raum verlassen, den sie betritt. Nicht weil ich sie sonst angreifen würde oder so. Sondern um Distanz zu Raum verlassen, den sie betritt. Nicht weil ich sie sonst angreifen würde oder so. Sondern um Distanz zu schaffen, räumlich, die Qualen wären sonst zu groß für mich. Das könnte ich nicht ertragen. Ich bin heute noch nicht einmal in der Lage, nur in die Nähe des Heims zu gehen. Sobald ich mich in Sülz oder Klettenberg aufhalte, kommt mir alles dunkel und unheimlich vor. Als ob ich in ein tiefes seelisches Loch fallen würde. Selbst wenn ich am ehemaligen Jugendamt vorbeifahre, das in der Nähe des Rudolfplatz lag, wühlt mich das auf. Ich brauche dann Tage, um mich innerlich wieder zu beruhigen. Einige meiner Leidensgenossen haben wegen des Traumas ihrer Kindheit Selbstmord begangen. Wieso gerade ich es geschafft habe, trotz allem ein relativ normales Leben zu führen? Ich wollte meiner Peinigerin zeigen, dass ich eben kein Versager und Verbrecher bin. Keinesfalls wollte ich so werden wie mein krimineller Vater. Und wenn ich absacke und ins Gefängnis komme, dann werde ich dort wieder gequält, fürchtete ich.

Als ich 16 Jahre alt war, habe ich die W. zufällig in der S-Bahn wiedergetroffen. Sie hat getan, als ob nichts passiert wäre. Ich bin wie ferngesteuert hingegangen und habe gesagt: "Wenn du jetzt nicht an der nächsten Station aussteigst, bist du tot." Sie ist dann auch wortlos ausgestiegen. Ein älterer Mann hat mich danach gefragt, was sie mir angetan hätte. Der hat in meinen Augen gesehen, wie ernst es mir war. Und hat bemerkt, wie ich am ganzen Körper zitterte und bebte. Aber ich konnte nicht antworten, in mir war nur die tiefe Wut.

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Detlef Schmalenberg


Ich bin 48 Jahre alt. Schon während des BWL-Studiums an der Universität Köln habe ich als freier Journalist gearbeitet, unter anderem für den stern, die taz sowie die Nachrichtenagentur ddp. Beim „Kölner Stadt-Anzeiger“ habe ich als freier Mitarbeiter zunächst über Kommunalpolitik, Gericht und Polizei berichtet, später als Reporter der „Seite Drei“ über zahlreiche überregionale Themen. Nach meiner Zeit als stern-Redakteur (2001 bis 2005) bin zurück nach Köln. Bisherige Auszeichnungen: Hansel-Mieth-Sonderpreis (1998), Journalistenpreis des „Bundesverband Herzkranke Kinder“ (1998), verlagsinterner Journalistenpreis des „Kölner Stadt-Anzeiger (2007) sowie „Theodor-Wolff-Preis 2010“ für ein Feature über den Einsturz des Kölner Stadtarchivs.
Dokumente
„Sie war der Teufel, der mir das Leben zur Hölle gemacht hat“

erschienen in:
Kölner Stadt-Anzeiger,
am 16.04.2010

 

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